Atomkraftwerk in Saporoschje (Bild: Ralf 1969 via CC BY-SA 3.0)

Der Nachrichten-GAU

Wer als Nachrichtenredakteur arbeitet, hat in der Regel ein dickes Fell entwickelt. Es gibt wenig Meldungen, die einen dann noch richtig erschrecken; was im Nachrichtenticker über den Bildschirm läuft oder als Eilmeldung rot aufblinkt, wird meist unter rein professionellen Gesichtspunkten bewertet: Wie groß ist der Nachrichtenwert? Ist das wirklich neu? Ist die Quelle zuverlässig?

Am Mittwoch war das anders: Mein Dienst in der Online-Redaktion des Deutschlandfunks neigte sich dem Ende entgegen, da ploppte gegen Mittag eine Eilmeldung von Reuters aus: „EIL – Atomunfall im Südosten der Ukraine“ hieß es da. „Ach du Scheiße!“, hieß es bei uns. Denn die Assoziationskette war wohl überall die gleiche: Ukraine – Atomunfall – Tschernobyl.

Ministerpräsident Arseni Jazenjuk habe den Energieminister angewiesen, eine Pressemitteilung zu geben, um über Gegenmaßnahmen zu einem Atomunfall zu informieren, hieß es in der Meldung. Ich muss zugeben, auch ich war drauf und dran, die Nachricht als Eilmeldung zu Twittern und ins Internet zu pusten. Was mich in den ersten Minuten rettete, war die eherne Regel des Deutschlandfunks: Jede Meldung braucht zwei Quellen – es sei denn, sie kommt direkt vom eigenen Korrespondenten oder beruht auf eigener Beobachtung.

Und die gab es nicht. Es gab auch Minuten später nur Reuters, die das meldeten. Und so wuchs das Misstrauen.

Es war kaum anzunehmen, dass der ukrainische Ministerpräsident über so ein Ereignis exklusiv mit Reuters sprechen würde. Und ebenso wenig war anzunehmen, dass Jazenjuk dabei Englisch gesprochen hatte. War es am Ende nur ein Übersetzungsfehler? Wir entschieden uns für die maximal vorsichtige Variante:

Andere hatten weniger Skrupel: Der sogenannte Nachrichtensender N24 blendete sofort das Wort „Atomunfall“ ein und telefonierte hektisch mit Menschen, die zwar alle nichts wussten, aber alle einmal sagen durften, wie sehr sie das Ganze an Tschernobyl erinnere. Doch selbst seriöse Medien wie faz.net twitterten: Jazenjuk: Atomunfall im Südosten (was von daher praktisch war, dass man später in der Meldung das Wort „Jazenjuk“ nur durch das Wort „Kein“ ersetzen musste).

Am dollsten trieben es aber erwartungsgemäß die Spezialisten für Qualitätsjournalismus möglichst klickträchtige Krawallmeldungen von Focus Online.

Den GAU erlebte aber am Mittwoch kein ukrainisches Atomkraftwerk, sondern Reuters und die Krawallbrüber von Focus Online. Denn nach und nach stellte sich heraus, dass der Atomunfall lediglich ein technischer Zwischenfall war, der auch noch mehrere Tage zurück lag. Ministerpräsident Jazenjuk hatte in der Kabinettssitzung von „Avarija“ gesprochen, Reuters hatte statt „Panne“ die maximal katastrophenträchtige Übersetzung „Atomunfall“ gewählt und die Meldung ungeprüft rausgehauen und bei Focus Online war man wohl überzeugt, dass Ganze könne noch ein wenig Zuspitzung vertragen. Ein technischer Zwischenfall in einem Kraftwerk ist natürlich auch nicht ungefährlich, verhält sich zum Gau aber ungefähr so wie eine Glühbirne zu einer Supernova.

Für Reuters ist so etwas natürlich dramatisch: Wer soll der Nachrichtenagentur in Zukunft noch eine Eilmeldung glauben? Die Brüder bei Focus Online werden sich dagegen wohl vor allem darüber ärgern, dass der Energieminister so schnell Entwarnung gegeben und ihnen die ganzen schönen Klicks vermiest hat.

Anmerkung: Die Passage mit der Zweiquellenregel habe ich auf Hinweis von @flueke und @stfries präzisiert.

(Beitragsbild: Ralf1969 unter CC BY-SA 3.0)


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